Vor zwei Jahren hatte ich das Glück, ein Stipendium für eine Ikonenmalschule in Liviv in der Ukraine zu bekommen. Der Ort war eigentlich meine zweite Wahl, denn ich hätte mich damals zwar für alte Maltechniken, nicht aber für Ikonen interessiert. Besonders die Gesichter von Ikonen fand ich hässlich. Wie man das Bedürfnis haben konnte, seit Jahrhunderten Menschen so seltsam schematisiert darzustellen, war mir ein Rätsel, das meine Neugierde jedoch nicht entfachen ließ.
Ich wurde in einem Seminar für griechisch-katholische Priester untergebracht, einem großzügigen Gebäudekomplex aus den achtziger Jahren am Rand von dicht gedrängten, heruntergekommenen Plattenbausiedlungen. Vom Fenster aus konnte ich über den Hof die Kirche mit ihren goldenen Kuppeln sehen und mehrmals täglich die Gesänge der etwa hundert jugendlichen Priesterstudenten hören. In den langen Gängen des abgewohnten Gebäudes roch es nach einem Gemisch von Großküche und Weihrauch. Ich war ein Fremdkörper unter den vielen schwarzen Kutten und musste hin und wieder nach einem Portierwechsel erklären, warum meine Anwesenheit kein Irrtum war.
Die Priesterschaft ist selbstbewusst und die griechisch-katholische Kirche spielt eine zentrale Rolle in der Ukrainischen Gesellschaft. Sonntags ist die Messe so gut besucht, dass sie für alle Menschen, die in der Kirche keinen Platz mehr finden, per Lautsprecher lautstark über den Kirchenvorplatz und manchmal auf die ganze Umgebung übertragen wird. Mich hat erstaunt, dass während einer Messe auch junge Menschen für eine Beichte im offenen Kirchenraum Schlange stehen und sogar weinend von einem Beichtgespräch – im Rahmen dessen sie dem Priester Schal und Kreuz küssen – zu ihrem Platz zurückkehren. Die Ikonenmalerinnen haben mir erklärt, das wäre nicht ganz freiwillig, die Menschen hätten kein Geld für Psychotherapie.
In der Kirche werden auch die Gesichter der dafür bereitgestellten Ikonen geküsst und der Abdruck der feuchten Lippen danach mit einem dafür bereitgelegten Tuch wieder abgewischt. Heute sind diese Ikonen hinter Glas, früher aber wurden die gemalten Münder aufgrund der Berührung mit den Lippen mit der Zeit fleckenweise weggewischt. Dadurch sind erstaunlich interessante Effekte entstanden, ähnlich einer neuerlichen Abstraktion der ursprünglichen Abstraktion. Zum Glück wurden diese „Schäden“ an den alten Ikonen bisher nicht restauriert, dafür fehlt wohl das Geld.
In einem Nebengebäude des Priesterseminars abseits von Obstgärten und Rosenbeeten befand sich die griechisch-katholische Universität mit der Klasse für Ikonenmalerei, in der vor allem junge Frauen an kleinen Ikonen von Engeln oder Christusfiguren malten. Sie kopierten Abbildungen aus dem 12. Jahrhundert („we refresh the old technic!“), während eine kleine Gruppe bereits ausgebildeter Frauen an riesigen Tafelbildern für eine Aufbahrungshalle in Südtirol arbeitete – eine Auftragsarbeit, die den Ikonenmalerinnen ihren Lebensunterhalt sicherte. Da saßen sie stundenlang fast unbewegt mit Kopfhörern an den Ohren. Wenn ich mithören durfte, war so etwas wie romantischer Kuschelrock zu hören. Mit dünnem Pinsel tupften und strichelten sie aus einer kleinen Schale einen dünnflüssigen Farbton auf die Tafeln und erst nach Tagen war der Fortschritt dieser Arbeit zu sehen.
Ikonen werden bewusst umweltfreundlich hergestellt, indem man sich auf das Material beschränkt, das für dieselben Motive auch schon im 12. Jahrhundert verwendet wurde. Eine rohe Holzplatte wird mit Kreide und Haut-Leim präpariert und darauf werden in einer Emulsion von Dotter, Essig und Wasser natürliche Pigmente aus fein zerriebenen Erden oder Steinen aufgetragen. Diese Arbeit hinterlässt keine problematischen Rückstände, Ikonen sind im Grunde kompostierbar.
In einer praktischen Vorlesung analysierte ein anerkannter Ikonenmaler die Konstruktion eines Gesichts schrittweise nach dem Schema des goldenen Schnitts, und die StudentInnen mussten die Strichführung für Mund, Augen und Nase üben. Spätestens da erkannte ich, dass es in der Ikonenmalerei nicht um Ähnlichkeiten zu einer menschlichen Figur geht, sondern um das Erlernen von Symbolen und ihre Anwendung im Bild. An diesem Punkt begann ich mich tatsächlich für Gesichter von Ikonen zu interessieren, denn Symbole haben den Charakter von Buchstaben, und mit Buchstaben kann man in verschiedensten Sprachen jede beliebige Geschichte erzählen.
Meine Aufmerksamkeit richtete sich auf die Gesichtsausdrücke der Madonna mit ihrem Sohn. Die alten orthodoxen Madonnen gleichen eher Ungeheuern und ihre Söhne kleinen, verweichlichten Männern. Während Künstler im Westen Madonnendarstellungen genützt haben, um die Frau als makellose Mutter und ihr Kind als süßes Baby darzustellen, hat der Osten die Technik für ein abstraktes Menschenbild tradiert, in dem ich nach wie vor einen riesigen Fundus an Ausdrucksmöglichkeiten entdecke.
Ich beobachtete die Malerinnen beim Malen von Gesichtern. Die Endresultate waren für meinen Geschmack meist kitschig übertrieben, aber zwischen den einzelnen Malschritten gab es immer wieder interessante Momente, die jedoch im Arbeitsrhythmus der Teamarbeit oder der Routine zerstört wurden.
Bei meinen ersten eigenen Versuchen war ich bei Allem zu ungeduldig, habe immer zu viel Farbe auf einmal aufgetragen, wodurch unschöne Flecken entstanden sind, die ich in mühseliger Kleinarbeit wieder ausbessern musste. Ein entsetztes „too much!“ war ein häufiger Kommentar der Ukrainerinnen zu meinem Umgang mit den Pigmenten. Um die Technik des Ikonenmalens zu erlernen, musste ich oftmals eine ganze Fläche wieder abwaschen, um in lasierenden Schichten mit trockenerem Pinsel von neuem zu beginnen. Die Fläche war für mich bisher der Platz für das großzügige Zudecken von Raum. Mit der Ikonenmalerei habe ich gelernt, die Fläche als vielschichtigen, in die Tiefe gehenden Farbkörper umzusetzen.
Das geometrisch abstrahierte Gesicht verliert seine Individualität und auch seine Geschlechtlichkeit, es gewinnt dafür etwas Allgemeingültiges – und trägt trotzdem die Gesichtszüge der jeweiligen Maler(in): „an icon always becomes a self portrait” wurde mir erklärt. Meine Beobachtungen in der Klasse konnten das bestätigen, und das war umso erstaunlicher, als ja mit vorgegebenen Symbolen gearbeitet wurde.
Mich interessieren Regeln als kulturbedingte Idee des Menschen, um sich oder seine Leistung durch Reduktion zu perfektionieren. Ikonen bieten mir ein neues, von meiner kulturellen Prägung her unbekanntes Terrain von Regeln, die ich – soweit ich sie zu verstehen in der Lage bin – gerne befolge, wie eben die Konstruktion eines Gesichtes mit Symbolen für Augen, Nase und Mund. Aber während der Wiederholung traditioneller Arbeitsschritte fallen mir Möglichkeiten ein, die vom üblichen Muster abweichen, und indem ich der abtrünnigen Spur nachgehe, verfolge ich staunend den Weg, den die Sache nun nimmt. Mich fasziniert, wie viel Gestaltungsraum für vielfältigste Emotionen sich mit diesen Zeichen entdecken lässt und welch komplexe zwischenmenschliche Zusammenhänge sichtbar gemacht werden können. So kann die „Mutter Gottes“ als egoistisches Monster dargestellt werden, das sich die Hand des Kindes einverleibt, jedoch aufgrund der Harmonie der geraden Linien ihre Schönheit bewahrt. Ebenso kann die Linie eines emotionslosen Mundes in ihrer reduzierten Darstellung auch ein Piktogramm für einen Berg mit Gletscher sein, oder die Hälfte des Gesichts eine tanzende Figur…
Judith Zillich, veröffentlicht in „Literatur und Kritik“, Mai 2021, Heft Nr. 554 (hier gekürzt)